BVerfG: Kein Sorgerechtsentzug bei Zusammenleben mit Kindesmissbraucher

Die Wirksamkeit des Beschlusses des Amtsgerichts Wiesbaden vom 10. Juli 2009 – 537 F 123/08 SO – wird einstweilen bis zur Entscheidung über die Hauptsache, längstens bis zum 7. Februar 2010, ausgesetzt, soweit der Antragstellerin darin die elterliche Sorge für ihre beiden Kinder Ma. und Mi. entzogen, Vormundschaft angeordnet und das Amt für Soziale Arbeit – Bezirkssozialarbeit – der Landeshauptstadt Wiesbaden zum Amtsvormund bestimmt wurde.

Für diese Dauer wird das Verbleiben beider Kinder bei der Antragstellerin angeordnet.

Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes wird abgelehnt.

Das Land Hessen hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Aussetzung der Vollziehung eines ihr das Sorgerecht für ihre Söhne entziehenden Beschlusses. Gleichzeitig beantragt sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

1. Die Antragstellerin ist Mutter der aus der – geschiedenen – Ehe zum Kindesvater hervorgegangenen Tochter J. (geboren im Januar 1995) sowie der aus der späteren Ehe mit dem im September 2005 verstorbenen Kindesvater hervorgegangenen Söhne Mi. (geboren im Juni 2000) und Ma. (geboren im Mai 2001).

Da die Antragstellerin seit April mit einem rechtskräftig wegen schweren sexuellen Missbrauchs an Kindern zu einer zweijährigen zur Bewährung ausgesetzten Strafe verurteilten Partner zusammen ist, erteilte ihr das Amtsgericht zum Schutz der Kinder Auflagen, an die sie sich jedoch nach eigenen Angaben nicht hielt. Mittlerweile gelangten allerdings der behandelnde Therapeut und das Landeskriminalamt zu der Einschätzung, dass die Rückfallgefahr sehr gering sei, so dass einem Umgang mit den Kindern der Antragstellerin nichts mehr im Wege stehe.

Nachdem das Jugendamt einen Antrag auf Entziehung der elterlichen Sorge für die Kinder gestellt hatte, holte das Amtsgericht zur Frage der Erziehungseignung der Antragstellerin ein kinderpsychologisches Gutachten der Sachverständigen Dr. K.-K. ein, in dem diese zu dem Ergebnis kam, die Erziehungsdefizite der Antragstellerin könnten mit ambulanten Maßnahmen bewältigt werden, wenn diese – im Hinblick auf die von der Sachverständigen gesehene Gefährdung seitens des Lebensgefährten – mit den Kindern allein lebe und langfristig eine Alkoholtherapie mache. Darüber hinaus hörte das Amtsgericht am 6. Mai 2005 die Kinder, die sich für einen Verbleib bei der Mutter aussprachen, die Familienpflegerin, die Vertreterin des Jugendamtes, die Sachverständige sowie die Verfahrensbeteiligten an. Mit Hinweis- und Auflagenbeschluss vom 11. Mai 2009 stellte das Amtsgericht den Entzug der elterlichen Sorge für Mi. und Ma. für den Fall in Aussicht, dass das Jugendamt ein schlüssiges Konzept für die Unterbringung beider Kinder in Vollzeitpflege vorlege. Das Jugendamt schlug sodann eine Unterbringung beider Kinder in einer Familienpflege vor.

Daraufhin entzog das Amtsgericht der Antragstellerin mit Beschluss vom 10. Juli 2009 die elterliche Sorge für die Kinder Ma. und Mi., ordnete für beide Kinder Vormundschaft an und bestimmte das Amt für Soziale Arbeit zum Amtsvormund. Gleichzeitig gab es dem Vormund auf, die beiden Kinder in der genannten Erziehungsstelle unterzubringen und einen regelmäßigen Kontakt (mindestens einmal monatlich einen Tag) zwischen beiden Kindern und ihrer Mutter sicherzustellen. Darüber hinaus wurden weitere, die Tochter betreffende Regelungen getroffen.

Eine Gefahr für die Kinder könne nicht ohne eine Trennung von der Antragstellerin abgewendet werden. Zwar zeigten beide Söhne – anders als J. – bislang noch keine Verhaltensauffälligkeiten oder Störungen, die auf eine nachgeburtliche Vernachlässigung durch die Mutter zurückzuführen seien, doch sei auch insoweit die Prognose ungünstig, weshalb das Gericht eine Fremdunterbringung als einzigen Ausweg sehe, um Schaden abzuwenden. Aufgrund der Ermittlungen könne nicht davon ausgegangen werden, dass ambulante öffentliche Hilfen ausreichten, um den beiden Jungen das für die weitere gedeihliche Entwicklung erforderliche Minimum an Stabilität und Bindungssicherheit zu bieten. Dies wird unter Bezugnahme auf die von der Antragstellerin nur schleppend und zögerlich angenommene Familienhilfe, deren Ungeeignetheit zur Vermeidung des sexuellen Missbrauchs J. und verschiedener weiterer Problemlagen in der Vergangenheit ausgeführt. Die Antragstellerin habe sich selbst unter dem Eindruck des drohenden Entzugs des Sorgerechts nur beschränkt an die vom Gericht erteilten Auflagen gehalten und sei beispielsweise am 3. Juli 2009 in volltrunkenem Zustand mit beiden Söhnen in einer Klinik erschienen.

Die Sachverständige habe überzeugend dargelegt, dass bei allen drei Kindern eine tiefgreifende Bindungsunsicherheit bestehe, die nicht zuletzt Folge des Verhaltens und des biografischen Werdegangs der Mutter sei. Die Kinder hätten nicht nur die Alkoholexzesse und Partnerwechsel miterlebt, sie würden von der Antragstellerin auch nicht angemessen in ihrer kindlichen Entwicklung und ihren Bedürfnissen unterstützt, da diese offensichtlich nicht in der Lage sei, diese zu erkennen oder der Erkenntnis Taten folgen zu lassen. Dies habe dazu geführt, dass J. in der Familie mittlerweile das Sagen habe und die Erziehung der beiden Jungen übernehme, womit sie naturgemäß überfordert sei. In der mündlichen Erläuterung ihres Gutachtens habe die Sachverständige entgegen der zunächst schriftlich geäußerten Einschätzung ausdrücklich geäußert, dass eine Gefährdung des Kindeswohls im Falle des Verbleibs der Kinder im mütterlichen Haushalt auch dann angenommen werden müsse, wenn vom Partner der Mutter keine Gefahr für die Kinder ausgehe. Die Mutter sei aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten und der von ihr eingenommenen „Opferrolle“ langfristig nicht in der Lage, den Kindern gesicherte Bindungen zu vermitteln und sie so vor einer Gefährdung ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls zu schützen.

Die Herausnahme der beiden Jungen aus dem mütterlichen Haushalt und ein Entzug der gesamten elterlichen Sorge sei geboten. Das Konzept des Jugendamtes gewährleiste beiden Kindern langfristig den Aufbau sicherer Bindungen und damit eine ihrem Wohl entsprechende Entwicklung. Durch die gemeinsame Unterbringung beider Kinder in einer Familie bleibe die Geschwisterbindung erhalten, darüber hinaus könnten sie Bindungen zu den Pflegeeltern aufbauen.

Gegen diesen Beschluss legte die Antragstellerin Beschwerde ein. Einen gleichzeitig gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts lehnte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 17. Juli 2009 mit der Begründung ab, keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Elternrecht und die Rechte der Kinder erkennen zu können, nachdem während der Dauer des Verfahrens eine nachhaltige Stabilisierung der Antragstellerin unter dem Einsatz der Familienhilfe bislang offenbar nicht habe festgestellt werden können. Vielmehr zeige der Umstand, dass die Antragstellerin – trotz behaupteter Fortschritte aufgrund einer Suchttherapie – am 3. Juli 2009 mit den Kindern wegen eines Radunfalls von Mi. in volltrunkenem Zustand in die Klinik gekommen sei, dass eine konkrete Gefährdung des Wohls der beiden acht und neun Jahre alten Jungen mit weniger einschneidenden Maßnahmen jedenfalls derzeit nicht abzuwenden sei.

2. Die Antragstellerin wendet sich sinngemäß gegen den die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts ablehnenden Beschluss des Oberlandesgerichts und begehrt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Wirksamkeit des amtsgerichtlichen Beschlusses auszusetzen, soweit ihr damit das Sorgerecht für ihre Söhne entzogen, Vormundschaft angeordnet und das Amt für Soziale Arbeit zum Amtsvormund bestellt wurde.

II.

1. Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>).

Ist ein Hauptsacheverfahren noch nicht anhängig, ist ein Eilantrag nur zulässig, wenn der Streitfall als Hauptsache in zulässiger Weise vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden könnte (vgl. BVerfGE 105, 235 <238>; stRspr).

b) Nachdem die noch nicht eingelegte Verfassungsbeschwerde zulässig und nicht offensichtlich unbegründet wäre, führt die Folgenabwägung zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, so blieben beide Kinder – gemäß ihrem eigenen Wunsch – bis zum Abschluss des Verfahrens bei ihrer Mutter in ihrer vertrauten Umgebung; nach Ende der Schulferien könnten sie weiterhin ihre bisherigen Schulen besuchen. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, verzögerte sich die – nach Einschätzung des Amtsgerichts – mit Stabilität und Bindungssicherheit verbundene Aufnahme der Kinder in der Pflegefamilie um einen – allerdings überschaubaren – Zeitraum.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so würden die Kinder gegen ihren Willen von ihrer Mutter als Hauptbezugsperson sowie ihrer Halbschwester getrennt und in ein über hundert Kilometer entferntes unbekanntes Umfeld nach M. verbracht. Dies wäre mit einem vollständigen Wechsel der Bezugspersonen verbunden. Ein Kontakt zur Antragstellerin wäre angesichts der Entfernung und deren finanzieller Verhältnisse auf ein Minimum beschränkt, so dass eine innerfamiliäre Entfremdung drohte. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet, wäre ein nochmaliger Wohnort- und Schulwechsel der Kinder zurück zur Mutter zu erwarten. Diese mehrfachen Wechsel des Ortes, der unmittelbaren Bezugsperson und des schulischen Umfeldes beeinträchtigten das Kindeswohl in nicht unerheblichem Maße.

Wägt man daher die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die den Kindern im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die Nachteile, die Kindern und Mutter im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung entstehen könnten. Dies gilt insbesondere angesichts dessen, dass das Amtsgericht den Entzug der elterlichen Sorge mit Hinweis- und Auflagenbeschluss vom 11. Mai 2009 nur für den Fall der Vorlage eines schlüssigen Konzeptes für eine Unterbringung beider Kinder in Vollzeitpflege durch das Jugendamt in Aussicht gestellt hatte und damit zu erkennen gegeben hat, dass eine akute Herausnahme der Kinder aus dem mütterlichen Haushalt nicht angezeigt ist.

2. Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts kann mangels Vorlage aussagekräftiger Unterlagen nicht stattgegeben werden. Das Antragsformular ist nur ansatzweise ausgefüllt.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.

BVerfG, Beschluss vom 07.08.2009
1 BvQ 35/09

AG Wiesbaden, Beschluss vom 10.07.2009
537 F 123/08 SO

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.