- Die Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts Hamm vom 13. Oktober 2011 – 3 F 212/11 – nach Maßgabe des Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 15. Dezember 2011 – II-11 UF 240/11 – wird bis zur abschließenden Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht, längstens bis zum 17. Februar 2012, ausgesetzt.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde, mit der sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, gegen die Anordnung einer Kindesrückführung nach Art. 3 in Verbindung mit Art. 12 HKÜ.
1. Die Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsangehörige und die Mutter des im Mai 2009 in Deutschland geborenen M., der die deutsche und kanadische Staatsangehörigkeit hat. Den Kindesvater, einen kanadischen Staatsangehörigen, hatte die Beschwerdeführerin im Jahr 2005 kennengelernt. Nachdem die Beschwerdeführerin mit dem Kind nach dessen Geburt zunächst für zwei Monate in Deutschland gelebt hatte, hielt sie sich mit ihm seitdem, unterbrochen von Reisen nach Deutschland, deren Anzahl und Dauer zwischen den Eltern umstritten ist, in Kanada auf, wo die Beschwerdeführerin und der Kindesvater im Oktober 2009 heirateten.
Nachdem es Anfang Juli 2011 zur Trennung gekommen war, reiste die Beschwerdeführerin am 10. Juli 2011 mit M. nach Deutschland und hält sich mit ihm seitdem im Haushalt ihrer Mutter auf. Zuvor hatte sie sich vom Kindesvater, der den kanadischen Pass des Kindes bei der Ausreise einbehielt, eine Bescheinigung ausstellen lassen, die bestätigte, dass sie mit dem Kind reisen dürfe. Umgekehrt hatte die Beschwerdeführerin dem Vater noch am Flughafen ebenfalls eine solche Bescheinigung unterzeichnet. Seit Ende Juli oder Anfang August 2011 fordert der Vater von der Beschwerdeführerin die Rückkehr des Kindes nach Kanada, was die Beschwerdeführerin ablehnt.
Im August 2011 wurde durch das Amtsgericht Dortmund das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind einstweilen auf eine Ergänzungspflegerin übertragen. Anfang September 2011 beantragte der Kindesvater beim Amtsgericht Hamm die Rückführung des Kindes.
2. Das Amtsgericht Hamm verpflichtete mit Beschluss vom 13. Oktober 2011 die Beschwerdeführerin zur Herausgabe des Kindes an den Vater zum Zwecke der Rückführung nach Kanada. Ferner wies das Gericht auf Ordnungsmittel hin und traf Vollzugsanordnungen.
3. Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 mit der Maßgabe zurück, dass der Beschwerdeführerin die Möglichkeit eingeräumt wurde, das Kind bis 23. Januar 2012 freiwillig nach Kanada zurückzuführen.
Die Beschwerdeführerin sei zur Rückführung des Kindes verpflichtet, weil die Voraussetzungen der Art. 3, Art. 12 HKÜ erfüllt seien. Das Kind habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt bis zum Zeitpunkt des Rückkehrverlangens des Vaters in Kanada gehabt. Die Beschwerdeführerin habe das Kind seit spätestens Anfang August gegen den Willen des mitsorgeberechtigten Vaters in Deutschland zurückgehalten. Dem Rückführungsverlangen entgegenstehende Versagungsgründe nach Art. 13 Abs. 1 HKÜ seien nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen. Eine Einwilligung in einen dauerhaften Aufenthalt des Kindes in Deutschland habe der Kindesvater nicht erteilt. Auch eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls nach Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ sei nicht ersichtlich; ein Härtefall im Sinne dieser Vorschrift liege nicht vor. Zudem könne die Beschwerdeführerin das Kind nach Kanada begleiten; der Vater habe hierfür finanzielle Unterstützung angeboten.
4. Die Beschwerdeführerin beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, die angeordnete Rückführung ihres Kindes nach Kanada und die mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts verbundene Feststellung der Zuständigkeit der kanadischen Gerichtsbarkeit für das Sorgerechtsverfahren verletze sie in ihren Grundrechten aus Art. 6, Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie Art. 12 Abs. 1 GG.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr).
Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg versagt bleibt (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>).
b) Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung angezeigt.
aa) Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Verfassungsbeschwerde sich als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweisen wird. Der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist vielmehr offen.
bb) Die Folgenabwägung nach § 32 BVerfGG führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung, so verbliebe das Kind vorläufig, das heißt für die festzulegende Dauer der Aussetzung des Vollzugs der Rückführung, bei seiner Mutter in Deutschland. Eine Gefährdung des Kindeswohls wäre davon nicht zu erwarten. Würde sich die Verfassungsbeschwerde später als erfolglos erweisen, hätte sich der Fortgang des Verfahrens um die elterliche Sorge in Kanada um die Dauer der Aussetzung, also um eine im Vergleich zum bisherigen Aufenthalt des Kindes in Deutschland verhältnismäßig kurze Zeit verzögert.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, würde das Kind umgehend nach Kanada zurückgeführt. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet, würde dies zu einem erneuten Aufenthaltswechsel des Kindes führen.
Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die Nachteile, die dem Kind und der Beschwerdeführerin im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung entstehen könnten.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
BVerfG, Beschluss vom 20.01.2012
1 BvR 153/12